ADHS steht für AufmerksamkeitsDefizit- und HyperaktivitätsStörung. Die Unterscheidung in die Bezeichnung ADS (AufmerksamkeitsDefizitStörung ohne Hyperaktivität) und ADHS (AufmerksamkeitsDefizitStörung mit Hyperaktivität) ist heute nicht mehr aktuell. Gemäss ICD-11 (Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO) wird immer die Bezeichnung ADHS verwendet (Diagnosecode 6A05) und es kann mittels Nachkommastelle im Diagnosecode ergänzt werden, ob es sich um ein ADHS mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild (6A05.0), vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Erscheinungsbild (6A05.1) oder um ein gemischtes Erscheinungsbild (6A05.2) handelt.
Zu den Diagnosekriterien gehört, dass Menschen mit ADHS typischerweise Schwierigkeiten in den Bereichen Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität haben. Aber es bestehen auch Probleme in vielen anderen Bereichen wie Emotionsregulation, Beziehungsgestaltung, Selbstwert und weitere. Es besteht eine lebenslange Beeinträchtigung und hohes Leiden in mehreren Lebensbereichen. Die Symptome müssen zudem bereits vor dem Ende des 12. Lebensjahrs beschreiben sein. Entgegen vieler Meinungen in der Allgemeinbevölkerung ist es also nicht so einfach, eine ADHS-Diagnose zu stellen oder zu bekommen.
Ein ADHS wird gemäss diagnostischer Klassifikationsmanuale als neurologische Entwicklungsstörung verstanden. Gerne möchte ich aus meiner psychotherapeutischen Perspektive etwas näher darauf eingehen. Der Teil neurologisch verweist darauf, dass beim Vorliegen eines ADHS das Gehirn auf eine andere Art und Weise arbeitet (Neurodiversität), als bei einer Person ohne ADHS (neurotypisch). Das bringt andere Denk-, Lern- und Verhaltensmuster mit sich. Gleichzeitig können wir uns hier einer eher philosophische Frage nicht entziehen, nämlich welches Kollektiv denn definiert, was „typisch“ und was „divers“ ist. Üblicherweise wird sich an der Mehrheit orientiert und es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der menschlichen Gehirne neurotyp zu sein scheint.
Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass Menschen mit ADHS ein Gehirn mit einer anderen Konfiguration haben, das anders arbeitet, als jenes eines Menschen ohne ADHS. Viele Betroffene beschreiben es als ein Gehirn ohne Filter, in welches entsprechend zu viele Reize einprasseln. Menschen ohne ADHS können für Routineaufgaben und wiederkehrende Abläufe den Modus des Autopiloten verwenden. Auf diese energiesparende Funktion des Gehirns können Menschen mit ADHS nicht zurückgreifen; alle Informationen werden sozusagen manuell verarbeitet. Das ist wie, wenn bei einem Motor eines Ferraris mit einer Handbremse eines Fahrrads versucht wird klarzukommen.
Zum Teil der Entwicklungsstörung ist es mir ein besonderes Anliegen, zu formulieren, dass diese „Störung“ meinem psychotherapeutischen Verständnis nach keine Störung des Individuums ist, sondern eine Störung der Integration in die (neurotype) Gesellschaft aufgrund der Andersartigkeit. Ich gehe soweit zu sagen, dass ADHS keine Krankheit ist, sondern eine andersartige Konfiguration des Gehirns, für die unsere heutige Welt nicht in allen Bereichen vorbereitet und ausgestattet ist, was für die Betroffenen einen immensen Leidensdruck verursacht. Ich distanziere mich entsprechend auch ganz klar von einer Glorifizierung von ADHS, wie sie teilweise in den sozialen Medien geschieht, wo überzufällig häufig auf die „Superkräfte von ADHS“ verwiesen wird oder undifferenziert und ohne tiefere Kenntnis über diese Form der Neurodiversität leichtfertig ein ADHS als Charaktereigenschaft, witzige Zuschreibung oder gar als Beleidigung benutzt wird.
Bis hierher schon komplex genug, findest Du nicht? Jetzt stell Dir vor, hinzu kommt die Komplexität des weiblichen Körpers mit all’ seinen Hormonen und entsprechenden Schwankungen!
Das Gehirn neurodiverser Menschen funktioniert anders, als jenes von neurotypen Menschen. Bei ADHS spielt der Neurotransmitter Dopamin – unser „Belohnungshormon“ – eine entscheidende Rolle. Studien haben gezeigt, dass bei ADHS Probleme mit der Bereitstellung und Ausschüttung von Dopamin bestehen, oder aber, dass Dopamin zu rasch wieder resorbiert wird [1]. Beides hat zur Folge, dass das ADHS-Gehirn Probleme mit der Dopaminregulierung hat. Es scheint die Dopaminausschüttung auf andere Weise zu nutzen und anders auf sie zu reagieren. Dabei kann es sowohl zu einem Überschuss wie auch zu einem Mangel an Dopamin kommen, was dann wiederum die typischen ADHS-Symptome wie Aufmerksamkeitsprobleme, innere Unruhe und Impulsivität begünstigen kann. Alle ins ADHS-Gehirn eingehenden Informationen erhalten sozusagen denselben „Dopamin-Wert“, sodass eine Person mit ADHS schwerer bei einer Aufgabe bleiben, sich konzentrieren oder sich für die beste Option entscheiden kann.
Im menschlichen Körper arbeiten sämtliche Neurotransmitter und Hormone zusammen. Die Hormone Östrogen und Progesteron haben beide Effekte auf andere Neurotransmitter, wie beispielsweise Dopamin und Serotonin [2, 3]. Sie spielen damit bei der Regulation von Emotionen und Verhalten eine wichtige Rolle [4, 5]. Erschwerend kommt jetzt hinzu, dass die Hormone Östrogen und Progesteron bei Frauen im Verlauf des Zyklus extrem schwanken. Zur Erinnerung: Östrogen ist vor allem in der ersten Zyklushälfte dominant und fällt direkt nach dem Eisprung sowie vor der Menstruation stark ab. Progesteron ist in der Zweiten Zyklushälfte dominant.
Bringen wir das jetzt mit ADHS zusammen: Die Symptome im Rahmen eines ADHS sind abhängig von der Verfügbarkeit von Dopamin. Die Dopaminproduktion wiederum ist abhängig von Östrogen und Progesteron. Heisst also, dass Frauen mit ADHS besonders nach dem Eisprung und vor der Menstruation besonders starke Symptome erleben können, weil dann das Östrogen sinkt und auch sonst schon Probleme bei der Dopaminregulierung im System vorhanden sind.
Methylphenidat als eine leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Wahl bei ADHS wirkt auf das Dopaminsystem, genau so wie regelmässiger Sport, Sex und bedeutungsvolle Beziehungen sowie soziale Interaktionen. Bei Frauen mit ADHS ist es möglich, dass sie nach dem Eisprung und vor ihrer Menstruation oder generell in der zweiten Zyklushälfte eine höhere Dosis des Medikaments benötigen, weil Östrogen dann absinkt und sich dies auf den Dopaminspiegel auswirkt, der ohnehin aufgrund des ADHS bereits dysreguliert ist.
All’ dies spielt nicht nur während der fruchtbaren Lebenszeit einer Frau eine grosse Rolle, sondern auch in den Wechseljahren sowie nach der Menopause, da die Östrogenproduktion vollständig absinkt. Es ist entsprechend auch typisch, dass ADHS-Symptome im Rahmen der Wechseljahre verstärkt hervortreten können. Pubertät und Schwangerschaft sind ebenfalls Phasen, die mit veränderten und schwankenden Hormonkonstellationen einhergehen, sodass diese Phasen ADHS-Symptome ebenfalls verändern können.
Da bekannt ist, dass ADHS bei Frauen häufig viel später erkannt wird, als bei Männern, ist es für Fachpersonen umso wichtiger, bei Schilderungen wie Stimmungsschwankungen, Konzentrationsproblemen, Vergesslichkeit, Schlafstörungen sowie ausgeprägter Erschöpfung eine differenzierte Exploration der Symptome, der Lebensumstände und der Biografie vorzunehmen und sich nicht leichtfertig mit Diagnosen wie Depression, nicht organischer Insomnie oder anderen „zufrieden zu geben“. Dasselbe gilt auch für Betroffene. Es ist stets im Hinterkopf zu behalten, dass die Symptome einerseits als gesunder Teil des weiblichen Zyklus zu erklären sind, mit dem wir aber nicht gelernt haben umzugehen, andererseits aber auch Hinweise auf ein bisher undiagnostizierts und unbehandeltes ADHS sein können oder auch beides.
An der Basis all’ dessen sehe ich die Wichtigkeit, den eigenen Zyklus sowie die darin enthaltenen psychologischen Phasen des Frau-Seins zu kennen, da dies den Umgang mit allem anderen, was möglicherweise noch dazu kommt, sei es eine Neurodiversität, eine psychische Erkrankung oder anderes, erleichtern kann. Wenn Du entsprechend mehr über Deinen weiblichen Zyklus lernen möchtest, dann schreibe mich gerne an.
Quellen:
[1]. Lauth, G. W., & Raven, H. (2009). Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) im Erwachsenenalter. Ein Review. Psychotherapeutenjournal, 1, 17-30.
[2]. McEwen BS, Akama KT, Spencer-Segal JL, Milner TA, Waters EM. (2012). Estrogen Effects on the Brain: Actions Beyond the Hypothalamus Via Novel Mechanisms. Behavioral Neuroscience, 126(1): 4–16.
[3]. Spinelli MG. (2005). Neuroendocrine Effects on Mood. Reviews in Endocrine & Metabolic Disorders, 6, 109–115.
[4]. ter Horst GJ. (2010). Estrogen and the Limbic System. Vitamins and Hormones, 82, 319-38.
[5]. Vigil P, Orellana RF, Cortés ME, Molina CT, Switzer BE, Klaus H. (2011). Endocrine Modulation of the Adolescent Brain: A Review. J Pediatr Adolesc Gynecol, 24, 330-337.
[6]. Skoglund, L. B. (2025). Mädchen und Frauen mit ADHS. Überraschend anders. Von Pubertät bis Menopause: Wie Frauen in jeder Lebensphase ihr volles Potential ausschöpfen. Trias Verlag.