ADHS steht für AufmerksamkeitsDefizit- und HyperaktivitätsStörung. Die Unterscheidung in die Bezeichnung ADS (AufmerksamkeitsDefizitStörung ohne Hyperaktivität) und ADHS (AufmerksamkeitsDefizitStörung mit Hyperaktivität) ist heute nicht mehr aktuell. Gemäss ICD-11 (Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO) wird immer die Bezeichnung ADHS verwendet (Diagnosecode 6A05) und es kann mittels Nachkommastelle im Diagnosecode ergänzt werden, ob es sich um ein ADHS mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild (6A05.0), vorwiegend hyperaktiv-impulsivem Erscheinungsbild (6A05.1) oder um ein gemischtes Erscheinungsbild (6A05.2) handelt. Ein ADHS wird gemäss diagnostischer Klassifikationsmanuale als neurologische Entwicklungsstörung verstanden.
Gerne möchte ich aus meiner psychotherapeutischen Perspektive etwas näher darauf eingehen. Der Teil neurologisch verweist darauf, dass beim Vorliegen eines ADHS das Gehirn auf eine andere Art und Weise arbeitet (Neurodiversität), als bei einer Person ohne ADHS (neurotypisch). Das bringt andere Denk-, Lern- und Verhaltensmuster mit sich. Gleichzeitig können wir uns hier einer eher philosophische Frage nicht entziehen, nämlich welches Kollektiv denn definiert, was „typisch“ und was „divers“ ist. Üblicherweise wird sich an der Mehrheit orientiert und es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der menschlichen Gehirne neurotyp zu sein scheint.
Zum Teil der Entwicklungsstörung ist es mir ein besonderes Anliegen, zu formulieren, dass diese „Störung“ meinem psychotherapeutischen Verständnis nach keine Störung des Individuums ist, sondern eine Störung der Integration in die (neurotype) Gesellschaft aufgrund der Andersartigkeit. Ich gehe soweit zu sagen, dass ADHS keine Krankheit ist, sondern eine andersartige Konfiguration des Gehirns, für die unsere heutige Welt nicht in allen Bereichen vorbereitet und ausgestattet ist, was für die Betroffenen einen immensen Leidensdruck verursacht. Ich distanziere mich entsprechend auch ganz klar von einer Glorifizierung von ADHS, wie sie teilweise in den sozialen Medien geschieht, wo überzufällig häufig auf die „Superkräfte von ADHS“ verwiesen wird oder undifferenziert und ohne tiefere Kenntnis über diese Form der Neurodiversität leichtfertig ein ADHS als Charaktereigenschaft, witzige Zuschreibung oder gar als Beleidigung benutzt wird.
Bis hierher schon komplex genug, findest Du nicht? Jetzt stell Dir vor, hinzu kommt die Komplexität des weiblichen Körpers mit all’ seinen Hormonen und entsprechenden Schwankungen!
Das Gehirn neurodiverser Menschen funktioniert anders, als jenes von neurotypen Menschen. Bei ADHS spielt der Neurotransmitter Dopamin – unser „Belohnungshormon“ – eine entscheidende Rolle. Studien haben gezeigt, dass bei ADHS Probleme mit der Bereitstellung und Ausschüttung von Dopamin bestehen, oder aber, dass Dopamin zu rasch wieder resorbiert wird [1]. Beides hat zur Folge, dass im System grundsätzlich ein Dopaminmangel herrscht, was dann wiederum die typischen ADHS-Symptome wie Aufmerksamkeitsprobleme, innere Unruhe und Impulsivität begünstigen kann.
Im menschlichen Körper arbeiten sämtliche Neurotransmitter und Hormone zusammen. Die Hormone Östrogen und Progesteron haben beide Effekte auf andere Neurotransmitter, wie beispielsweise Dopamin und Serotonin [2, 3]. Sie spielen damit bei der Regulation von Emotionen und Verhalten eine wichtige Rolle [4, 5]. Erschwerend kommt jetzt hinzu, dass die Hormone Östrogen und Progesteron bei Frauen im Verlauf des Zyklus extrem schwanken. Zur Erinnerung: Östrogen ist vor allem in der ersten Zyklushälfte dominant und fällt direkt nach dem Eisprung sowie vor der Menstruation stark ab. Progesteron ist in der Zweiten Zyklushälfte dominant.
Bringen wir das jetzt mit ADHS zusammen: Die Symptome im Rahmen eines ADHS sind abhängig von der Verfügbarkeit von Dopamin. Die Dopaminproduktion wiederum ist abhängig von Östrogen und Progesteron. Heisst also, dass Frauen mit ADHS besonders nach dem Eisprung und vor der Menstruation besonders starke Symptome erleben können, weil dann das Östrogen sinkt und auch sonst schon zu wenig Dopamin im System vorhanden ist.
Methylphenidat als eine leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Wahl bei ADHS wirkt auf das Dopaminsystem, genau so wie regelmässiger Sport, Sex und bedeutungsvolle Beziehungen sowie soziale Interaktionen. Bei Frauen mit ADHS ist es möglich, dass sie nach dem Eisprung und vor ihrer Menstruation eine höhere Dosis des Medikaments benötigen, weil Östrogen dann absinkt und noch weniger Domain vorhanden ist, als ohnehin schon.
All’ dies spielt nicht nur während der fruchtbaren Lebenszeit einer Frau eine grosse Rolle, sondern auch in den Wechseljahren sowie nach der Menopause, da die Östrogenproduktion vollständig absinkt. Es ist entsprechend auch typisch, dass ADHS-Symptome im Rahmen der Wechseljahre verstärkt hervortreten können.
Da bekannt ist, dass ADHS bei Frauen häufig viel später erkannt wird, als bei Männern, ist es für Fachpersonen umso wichtiger, bei Schilderungen wie Stimmungsschwankungen, Konzentrationsproblemen, Vergesslichkeit, Schlafstörungen sowie ausgeprägter Erschöpfung eine differenzierte Exploration der Symptome, der Lebensumstände und der Biografie vorzunehmen und sich nicht leichtfertig mit Diagnosen wie Depression, nicht organischer Insomnie oder anderen „zufrieden zu geben“. Dasselbe gilt auch für Betroffene. Es ist stets im Hinterkopf zu behalten, dass die Symptome einerseits als gesunder Teil des weiblichen Zyklus zu erklären sind, mit dem wir aber nicht gelernt haben umzugehen, andererseits aber auch Hinweise auf ein bisher undiagnostizierts und unbehandeltes ADHS sein können oder auch beides.
An der Basis all’ dessen sehe ich die Wichtigkeit, den eigenen Zyklus sowie die darin enthaltenen psychologischen Phasen des Frau-Seins zu kennen, da dies den Umgang mit allem anderen, was möglicherweise noch dazu kommt, sei es eine Neurodiversität, eine psychische Erkrankung oder anderes, erleichtern kann. Wenn Du entsprechend mehr über Deinen weiblichen Zyklus lernen möchtest, dann schreibe mich gerne an.
Quellen:
[1]. Lauth, G. W., & Raven, H. (2009). Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) im Erwachsenenalter. Ein Review. Psychotherapeutenjournal, 1, 17-30.
[2]. McEwen BS, Akama KT, Spencer-Segal JL, Milner TA, Waters EM. (2012). Estrogen Effects on the Brain: Actions Beyond the Hypothalamus Via Novel Mechanisms. Behavioral Neuroscience, 126(1): 4–16.
[3]. Spinelli MG. (2005). Neuroendocrine Effects on Mood. Reviews in Endocrine & Metabolic Disorders, 6, 109–115.
[4]. ter Horst GJ. (2010). Estrogen and the Limbic System. Vitamins and Hormones, 82, 319-38.
[5]. Vigil P, Orellana RF, Cortés ME, Molina CT, Switzer BE, Klaus H. (2011). Endocrine Modulation of the Adolescent Brain: A Review. J Pediatr Adolesc Gynecol, 24, 330-337.